Kirche und Verantwortung?

Das nahezu alltäglich gewordene Bild parkender Autos auf Lübecker Kirchhöfen
Das nahezu alltäglich gewordene Bild parkender Autos auf Lübecker Kirchhöfen

Über die Qualität der Lübecker Kirchhöfe


Die Kirchen der Lübecker Altstadt sind nicht nur für ihre Silhouette der sieben Türme, sondern insbesondere auch im Stadtbild und -Grundriss prägende Bauten. Jede der fünf Kirchen steht hierbei in ihrem eigenen, städtischen Umfeld und schafft dort besondere und individuelle Räume. 
Die Qualität dieser bedeutenden Orte wird jedoch zunehmend kompromittiert: sind sie doch mehr und mehr sowohl visuell als auch räumlich von parkenden Autos dominiert. Vor der Marienkirche - der Mutter der norddeutschen Backsteingotik inmitten des Weltkulturerbes - ist dieser Zustand bereits seit längerer Zeit quälende Normalität. Bis in das 19. Jahrhundert diente das Kirchumfeld noch als Friedhof - nun also stehen parkende Fahrzeuge auf geweihtem Boden. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass im Jahr 2017 direkt nebenan das brandneue Parkhaus im Wehdehof wieder eröffnet wurde. Entgegen aller gebotenen Vernunft und nachhaltiger Stadt- und Mobilitätsplanung sind hier fast 700 neue Parkplätze direkt im Herzen der Altstadt geschaffen worden. Freie Plätze gibt es also genug - statt diese nun wenigstens konsequent zu nutzen, parkt man in alter Gewohnheit offenbar lieber weiterhin dicht an dicht auf dem nördlichen Marienkirchhof direkt an der Jahrhunderte alten Kirchmauer.   

Die Marienkirche bildet hierbei leider keine Ausnahme. Auch auf dem Petrikirchhof werden parkende Fahrzeuge zur alltäglichen Gewohnheit. Grundsätzlich ist schon verwunderlich, dass vor der Südwand, in den Nischen zwischen den Strebepfeilern, bereits seit langem feste Parkplätze eingerichtet wurden - gut gesichert mit Klapppollern vor Fremdparkern. Nicht genug des mangelnden Respekts vor dem baulichen Erbe, öffnet man nun nach und nach den Kirchhof selbst für das stehende Auto - geparkt wird hier direkt auf den Grabplatten im Boden. Der Zustand des ehemals mit einem Übergang von Pflaster zu Grün ambitioniert gestalteten Platzes leidet zusehends durch die immer intensivere Nutzung als Parkplatz. Vom Rasengrün ist nicht mehr viel übrig und die plattgefahrene, braune Erde dominiert den Ort. Nun gilt der Parkraum in der Altstadt ja bei einigen tatsächlich als knapp - ausgerechnet die Petrikirche grenzt aber wieder direkt an ein benachbartes Parkhaus, hier das Parkhaus Mitte. Ist es da angemessen, statt dort direkt nebenan und auf den Köpfen unserer Ahnen zu parken? 

Man könnte den Kirchhöfen heute zynisch eine gewisse Nutzlosigkeit attestieren und sich über eine "sinnvolle" Nutzung als Parkplätze freuen. Gleichzeitig wird in der Altstadt und den angrenzenden dicht besiedelten Vierteln zu recht immer wieder der Wunsch nach mehr "Grün" laut, mehr Bänken, mehr Spielflächen und insgesamt mehr Aufenthaltsqualität - all dies könnten die Kirchhöfe bieten. Als Räume des Rückzugs vom "Großstadtlärm", als kleine grüne Oasen und vielleicht sogar als Orte der Besinnung - ganz im Geiste des ursprünglichen Zwecks - haben diese Flächen das Potential, wertvolle städtische Räume für die Lübecker Bürger zu sein. Das in jüngster Vergangenheit mit den Einschränkungen durch Covid-19 einhergehende große Bedürfnis nach Orten des Aufenthalts sowie auch die allzeitige Belebtheit der gestalteten Freiräume wie beispielsweise Obertrave und Drehbrückenplatz zeigen deutlich, wie rar und gleichzeitig wichtig diese Orte für die Stadt und ihre Menschen sind. 

Während allerorts nun von einem Wandel hin zu einer veränderten Mobilität gesprochen wird, prägt die längst totgeglaubte, autogerechte Stadt ausgerechnet auf unseren Kirchhöfen Tag für Tag und mehr und mehr das Bild. Eine öffentliche und für alle Bürger zum Aufenthalt gedachte Fläche, wird zum "Abstellraum" und das ausschließlich zum Nutzen Einzelner. 
Was bringt uns dazu, unsere Wertschätzung für unser kulturelles Erbe auf diese Art mit Füßen zu treten? Haben wir Lübecker mit der Auszeichnung der UNESCO nicht neben der Ehre vor allem auch eine Verantwortung unserer Altstadt gegenüber übernommen? Und muss diese Verantwortung nicht insbesondere von der von christlichen Werten geprägten Kirche wahrgenommen und vorgelebt werden? Wenn es ausgerechnet hier an prominenten Beispielen und guten Vorbildern fehlt, bleibt der Weg zu einer qualitätvollen, menschengerechten und zukunftsfähigen Altstadt für uns alle vermutlich nur eine Vision. 
imh

 

Juni 2020