Der Kampf ums Einfamilienhaus

Wie gelingt zukunftsfähige Stadtentwicklung

 

Kaum ein Thema schafft es derzeit neben Corona im Lockdown-müden Land wirklich zu bestehen. Eines jedoch erregt aktuell überraschend große mediale Aufmerksamkeit: die Diskussion um das Einfamilienhaus!
Doch was ist geschehen? Die Grünen haben im Superwahljahr 2021 endlich wiederentdeckt wofür sie eigentlich stehen und sich der Einlösung eines uralten Versprechens der Bundesregierung gewidmet: der Eindämmung des Flächenverzehrs. Im Jahr 2002 hatte die Bundesregierung im Rahmen der nationalen Nachhaltigkeitsstrategie ursprünglich das Ziel ausgegeben, bis 2020 die tägliche Neuversiegelung von Flächen auf 30 Hektar zu begrenzen. Derzeit liegt dieser Wert noch etwa doppelt so hoch und das Ziel somit in weiter Ferne. Aufgrund der drohenden Verfehlung hatte man die 30-Hektar-Marke zwischenzeitlich bereits kurzerhand auf 2030 verschoben.
Das Umweltbundesamt versucht mit unterschiedlichen Maßnahmen den Trend des übermäßigen Flächenverbrauches zu stoppen und der weiteren hemmungslosen Neuversiegelung entgegen zu wirken. Das ebenso simple wie wirkungsvolle Fazit einer Publikation aus dem Jahr 2003 mit dem Titel „Reduzierung der Flächeninanspruchnahme durch Siedlung und Verkehr“ lautet: „Die beste Vorsorge gegen die Neuversiegelung von Böden ist, die Umwidmung von Flächen in Siedlungs- oder Verkehrsflächen zu vermeiden.“ Zur Erreichung des Zieles zur Eindämmung des Flächenverzehrs gehört also unabdingbar dazu, zukünftig nur noch so wenig neue Flächen als Bauland auszuweisen wie möglich.
Im Bezug auf die Neuausweisung von Wohnflächen treiben Einfamilienhausgebiete den Verbrauch von Flächen im Vergleich zu anderen Wohnformen ganz besonders voran. Freistehende Einfamilienhäuser sind wahre Flächenfresser - so beträgt die durch sie verbrauchte Grundstücksfläche durchschnittlich etwa 930 qm, für eine Wohneinheit im Mehrfamilienhaus sind es nicht einmal 140 qm.


Die Neuversiegelung hat über den offenkundigen Verbrauch der Ressource Fläche hinaus zudem noch weitere Effekte zur Folge, die der Nachhaltigkeit unserer Städte entgegenwirken. Neue Einfamilienhausgebiete entstehen aufgrund des Mangels an räumlichen Alternativen und der geringeren Bodenpreise heute zumeist nur noch an den Rändern unserer Städte und darüber hinaus. Jeder Weg, ob zur Schule, zum Einkaufen oder zur Arbeit wird von hier aus mit dem Auto erledigt. Die in heutigen Planungen immer noch vorherrschende Trennung der Funktionen potenziert darüber hinaus die immer häufigeren und immer längeren Wegstrecken für die Routinen des Alttags. So entsteht ein großer Teil des heutigen Verkehrsaufkommens in unseren Städten, weil Wohn- und Arbeitsort der Menschen immer weiter voneinander entfernt liegen. Legte der durchschnittliche Beschäftigte in Deutschland im Jahr 2000 noch 8,7 km auf dem Weg zur Arbeit zurück, waren es 2014 bereits 10,5 km. Etwa 68 Prozent nutzen zur Überwindung der Distanz das Auto. Resultierend ergibt sich neben der zur Überbrückung aufgewendeten Lebenszeit eine immer stärkere Abhängigkeit vom eigenen Auto. Weit mehr als jeder zweite Einwohner im Land - einschließlich Kinder und älteren Menschen - besitzt bereits heute statistisch gesehen einen PKW. Tendenz steigend. Im Alter wird diese Abhängigkeit mehr und mehr zum Problem, da sie zunehmend den Weg in die Unselbstständigkeit ebnet.
Den sich seit der Nachkriegszeit immer weiter fortschreibenden Trend der Zersiedelung und der Funktionstrennung gilt es also umzukehren, wenn wir langfristig das Leben in unseren Städten nachhaltig und lebenswert gestalten wollen. Es müssen wieder vielfältige und durchmischte Quartiere geschaffen werden, in denen gelebt, gearbeitet und gehandelt wird, um so kurze alltägliche Wege zu ermöglichen. So lässt sich mehr Klimagerechtigkeit für die Gemeinschaft bei gleichzeitiger Steigerung der Lebensqualität für jeden Einzelnen schaffen.


Aus ökologischer Sicht ist neben der Vermeidung von Verkehr auch die Nachhaltigkeit des Bauens an sich von Relevanz. Naturgemäß ist die diesbezügliche Bilanz des freistehenden Einfamilienhauses gegenüber anderen Wohnformen - ganz unabhängig von energetischen Standards - kritisch, da die nach allen Seiten hin offene Bauform einen höheren Energiebedarf erzeugt und darüber hinaus der größere Bedarf an Baustoffen mehr Ressourcen verbraucht.


Auch wenn aktuelle Überschriften wie „Hamburgs Grüne verbieten Einfamilienhäuser: Traumhaus ade“ (Spiegel, 06.02.2021) anderes suggerieren wollen, geht es in der stattfindenden Diskussion keinesfalls darum, das Wohnen im Einfamilienhaus zu verbieten oder gar bestehende Häuser abzureißen. Wir müssen die Debatte um dieses Thema endlich versachlichen und nicht immer weiter ideologisieren und emotionalisieren. Um einerseits eine Antwort auf den voranschreitenden Klimawandel zu finden und den Herausforderungen an unsere wachsenden Städte andererseits gerecht werden zu können, ist ein grundsätzliches Umdenken zwingend notwendig.
Es braucht neue oder eine Rückbesinnung auf alte Wohntypologien, die sowohl dem Wunsch nach Individualität in einem möglichst hohen Maße gerecht werden als auch dem Flächenverzehr und dem übermäßigen Ressourcen-Verbrauch Einhalt gebieten. In niederländischen Städten beispielsweise wohnt man gerne im meist zentralen, urbanen „Townhouse“ oder „Rijtjeshuis“ und reiht sich somit im wahrsten Sinne des Wortes offenbar gerne ein. Bei uns in Deutschland hingegen ist der Traum vom Eigenheim stets gleichgesetzt mit der Typologie des neu gebauten, vorstädtischen und vermeintlich individuellen aber doch stets konformen freistehenden Einfamilienhauses. Die Niederländer machen uns also seit Jahren an vielen Orten vor, wie verdichtete Wohnformen bei gleichzeitiger Schaffung der Qualität des Wohnens im eigenen Haus funktionieren können. Hier gilt es auch bei uns neue Bilder zu schaffen und durch Vermittlung eingefahrene Gewohnheiten zu wandeln. Ganz nebenbei ließe sich so den immer weiter steigenden Immobilienpreisen und Baukosten entgegen wirken.

Und was hat all das mit Lübeck zu tun?
Auch in unserer Stadt werden immer wieder neue Einfamilienhaus-Gebiete ausgewiesen und es wird so dem Flächenverzehr und der Neuversiegelung Vorschub geleistet.
„Eigenheime oder Geschosswohnungen: Was braucht die Hansestadt im Kampf gegen den angespannten Wohnungsmarkt?“. Mit diesem Einstieg widmete sich die LN vor einiger Zeit einer Debatte in der Lübecker Bürgerschaft über den richtigen Kurs in der künftigen Wohnungsmarktpolitik der Stadt. Viel wurde über den Bedarf am Markt einerseits und soziale Gerechtigkeit andererseits diskutiert und darüber, welchen Weg es einzuschlagen gilt, um der vorherrschenden „Wohnungsnot“ Herr zu werden.
Deutlich wurde bei all den Diskussionen wieder einmal was fehlt: eine grundsätzliche, inhaltliche Auseinandersetzung darüber, wie wir uns in Lübeck nachhaltige und zukunftsfähige Stadtentwicklung vorstellen. Die simple Frage nach „Eigenheimen oder Geschosswohnungsbau“ greift weit zu kurz und beschränkt sich auf die scheinbar gegensätzlichen Typologien, die sich in den Nachkriegsjahren herausgebildet haben - schwarz und weiß - der beengte Geschosswohnungsbau hier und das luftige, freistehende Einfamilienhaus dort. Die Liste der Gründe, warum es weit überfällig ist, sich von diesen Stereotypen zu lösen, ist wie zuvor dargestellt lang.


Wie vielerorts wurde auch in Lübeck im Jahr 2019 der „Klimanotstand“ ausgerufen. Dieser Schritt ist sehr begrüßenswert, noch wichtiger als dieses Symbol ist allerdings das entsprechende Handeln. So bedeutet nachhaltige Klimapolitik in erster Linie, schonend mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen. Bezogen auf die Entwicklung unserer Städte wird aus der vorangegangenen Beschäftigung mit der Thematik ersichtlich, dass die Anzahl der zugrunde liegenden Ressourcen vielfältig ist (Fläche, Baustoffe, Energie u.a.) und auch die resultierenden Auswirkungen Berücksichtigung finden müssen.


„Wir diskutieren am Markt vorbei“, „die Leute wollen Eigenheime und Reihenhäuser“ zitierte seinerzeit die LN den stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden der SPD Peter Reinhardt im Rahmen der Debatte um Lübecks künftige Wohnungsmarktpolitik. Klimaschutz und Nachhaltigkeit lassen sich jedoch sicherlich nicht durch das Befriedigen einer Nachfrage erzielen. Dies zeigen beispielsweise auch deutlich die immer noch steigenden Zulassungszahlen von PKW und hierbei insbesondere die Zunahme großer Exemplare wie SUVs. Der Freie Markt eignet sich nachgewiesenermaßen nicht als Steuerungsinstrument für ökologische und soziale Nachhaltigkeit. Im Hinblick auf das Bauen müssen Verwaltung und Politik ihrer Verantwortung gerecht werden, das Steuer übernehmen und in die richtige, zukunftsweisende Richtung steuern.


Inhaltlich liegt Herr Reinhardt zweifellos in einem Punkt richtig - steigt doch die Quantität der Einfamilienhäuser in Deutschland seit Jahren stetig an. Aktuell liegt deren Zahl bei etwa 16 Millionen - so kommt auf jeden fünften Einwohner Deutschlands bereits heute ein Einfamilienhaus. Auch die Wohnfläche je Einwohner in Deutschland nimmt übrigens seit Jahrzehnten rasend zu. Gab sich jeder Einzelne Anfang der 1990er Jahre im Durchschnitt noch mit etwa 34 qm zufrieden, sind es heute über 46 qm und somit eine Zunahme um fast 50%. Diesem Trend dürfen wir jedoch als Gesellschaft nicht folgen, sondern müssen stattdessen versuchen ihm durch Qualität statt Quantität Einhalt zu bieten - nur so können wir langfristig dem „Hamsterrad“ der übermäßigen Neuversiegelung und Zersiedelung entkommen.


Sicherlich zwingt uns in Lübeck - wie in fast alle größeren Städten in Deutschland - ein angespannter Wohnungsmarkt zum Handeln. Im Vergleich zu den rasend schnell wachsenden Metropolen sind wir jedoch in der komfortablen Situation mit Ruhe und Bedacht über den richtigen Weg entscheiden zu können und hierbei all diese Aspekte im Blick zu behalten. Einzelne zukunftsorientierte städtebauliche Konzepte dürfen nicht nur Modellprojekte bleiben, sondern müssen als Zielvorgabe für alle weiteren Entwicklungen gelten. Städtische Planungen dürfen nicht nur zum Ziel haben, kurzfristig vorhandene Bedarfe zu decken, sondern sie tragen in besonderer Weise Verantwortung für die Zukunft unserer Stadt.
Die entscheidende Frage muss also in diesem Kontext lauten, ob zu verantworten sein kann, wider besseren Wissens und entgegen jedweder Sozial- und Klimagerechtigkeit durch die Schaffung neuer Mono-Strukturen am Stadtrand mit hohem Flächenverbrauch den vermeintlichen Bedarf des Marktes zu decken? Oder muss nicht vielmehr das Ziel sein, durch die progressive Schaffung innovativer, qualitativer Alternativen Gewohnheiten aufzubrechen und so nachhaltige, zukunftsfähige Stadtentwicklung zu betreiben?


Sicher ist: mit einer Neuausweisung klassischer Einfamilienhaus-Gebiete kann die Stadt Lübeck ihrer Verantwortung für die Zukunft nicht gerecht werden. Und: Klimaschutz, Sozialverträglichkeit und städtebauliche Nachhaltigkeit gehen nicht ohne individuelle und gemeinschaftliche gesellschaftliche Kompromisse.
imh/lt

 

März 2021


Quellen

- www.umweltbundesamt.de

- de.statista.com

- Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung
  IAB Kurzbericht - Aktuelle Analysen aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung, 10/2018
- LN Artikel 30.05.2020 - „Bürgerschaft streitet: Baut Lübeck die richtigen Wohnungen?“

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„Einfamilienhäuser : Was wird aus der liebsten Wohnform der Deutschen?“ - FAZ Artikel, Niklas Maak, Februar 2021
„Besser Bauen in der Mitte“ - Publikation der Bundesstiftung Baukultur, 2019