PARK(ING) DAY 2023

KREIDEFIGUREN
Rauminterventionen im Rahmen des Park(ing)Day 2023

Der Park(ing)Day ist eine globale, öffentliche und partizipatorische Initiative, bei der sich Menschen auf der ganzen Welt für sicherere und gerechtere Straßen für Menschen einsetzen. Der Park(ing)Day findet jedes Jahr am dritten Freitag im September statt und eröffnet die Möglichkeit, über die Gestaltung unserer Städte zu diskutieren. Der erste Park(ing)Day fand 2005 als Guerilla-Kunstprojekt und Akt des Design-Aktivismus auf einem einzigen Parkplatz in San Francisco statt und hat sich seitdem - aufgrund der Wichtigkeit des Themas - zu einer globalen Bewegung entwickelt. Das ArchitekturForumLübeck war 2016 erstmals und ist seitdem jährlich Teil des Park(ing)Day in Lübeck.

Auch am 15. September 2023 ist das ArchitekturForum wieder Teil des Park(ing)Days und widmet sich diesmal durch Rauminterventionen dem Thema der Flächenkonkurrenzen zwischen gehenden Menschen und parkenden Autos:

In verschiedenen Lübecker Wohnquartieren finden sich auf den Gehwegen Kreidefiguren als Rauminterventionen, die im Maßstab 1:1, also in Echtgröße, den Raumbedarf zeigen, den Menschen benötigen (z.B. zwei nebeneinander gehende Personen). An vielen Stellen parken jedoch Autos auf den Gehwegen, teils behördlich erlaubt, teils nicht. Die Kreidefiguren weisen auf den Missstand hin, dass die Gehwege vieler Quartiere durch auf ihnen parkende Autos einem urbanen Dschungel gleichen. Vielerorts müssen Gehende (und Rollstuhlfahrende) neben den Autos auch einer Laterne, Müllsäcken, Fahrrädern, Sachen, die zu verschenken sind, usw. ausweichen. Die Menschen auf den Gehwegen müssen stehen bleiben, wenn ihnen jemand entgegenkommt. Gehende, die zu zweit unterwegs sind, gehen hintereinander, meist schweigend oder sehr laut miteinander sprechend. Kinderspiel, Rollerfahren o.ä. ist kaum möglich. Mit Qualität und Barrierefreiheit im öffentlichen Raum hat die beschriebene Situation, die als Blaupause für viele Lübecker Wohnquartiere dient, nichts zu tun.

Doch warum ist das so? In den dicht bebauten Wohngebieten der Lübecker Altstadt und der Vorstädte herrscht ein hoher Parkdruck, der sich durch einen kurzen Blick in die Statistiken erklären lässt: Seit den 1980er-Jahren ist die Einwohner*innenzahl Lübecks um 6 Prozent gestiegen, die Anzahl der Kraftfahrzeuge stieg jedoch um 40 Prozent. Die Auswirkungen sind in den öffentlichen Räumen unserer Stadt spürbar. Gleichzeitig erfreuen sich SUVs und Wohnmobile immer größerer Beliebtheit, sodass die Anzahl der Neuzulassungen stetig steigt. Der Stadtraum muss also nicht nur eine höhere Anzahl an Autos beherbergen, sondern auch mehr Fläche für größere Autos bereitstellen, während der verfügbare Raum sich nicht oder nur geringfügig verändert hat. So kommt es zu Flächenkonkurrenzen.

Die Forschungsgesellschaft für Straßen und Verkehrswesen e. V. (FGSV) spricht Empfehlungen zur Breite von Fahrbahnen, Parkplatzflächen sowie Geh- und Radwegen aus. Diese Empfehlungen sind die zwar nicht verbindlich, jedoch orientieren sich Kommunen daran – zumindest dann, wenn es um Platz für Autos geht. Den Empfehlungen für Gehwege wird dagegen oft nicht gefolgt. So ist das empfohlene Maß von 1,80 m für Gehwege auf den Begegnungsfall bzw. das Nebeneinandergehen von zwei Personen ausgerichtet. Hinzu kommen Sicherheitsabstände, sodass ein optimaler Gehweg mindestens 2,50 m breit ist. Parkende Autos sind circa 2,00 m breit und die Fahrspur sollte in Einbahnstraßen mit einem Radverkehr in beide Richtungen mindestens 4,00 m breit sein, damit Auto und Radfahrer*innen bei Begegnungen nicht ausweichen müssen und der Sicherheitsabstand gewahrt bleibt. Zudem können bei dieser Breite auch Rettungsfahrzeuge (schnell) die Straßen passieren. Da die Breite der Rettungsfahrzeuge und damit die Breite der Fahrspur sowie die Breite von parkenden Autos nicht verhandelbar sind, werden bei zu geringen Raumbreiten in der Regel die Flächen für Fuß- und Radverkehr reduziert.


In Lübeck darf in vielen Einbahnstraßen von Wohngebieten beidseitig, und teils auf den Gehwegen, geparkt werden. Den Gehenden bleibt eine Breite von maximal1,40 m, wenn nicht noch andere Gegenstände den Weg verengen. Eigene Messungen vor Ort haben sogar oftmals nutzbare Gehwegbreiten von deutlich unter 1,00 m, sogar teilweise unter 50 cm, ergeben.


Erlebbar sind solche Situationen in Wohnquartieren in St. Lorenz Nord, St. Lorenz Süd, St. Jürgen, aber auch in der Innenstadt. Unbequem ist das Gehen dort für alle, doch fatal für diejenigen, die nicht mobil und in unserer immer älterwerdenden Gesellschaft auf Barrierefreiheit angewiesen sind. Diese Menschen schließt eine solche Situation aus und segregiert die Stadt.

 

Beispielhaftes heutiges Straßenprofil
Beispielhaftes heutiges Straßenprofil

Dabei geht es nicht um die einen gegen die anderen, denn Autofahrer*innen sind 90 Prozent der Zeit Fußgänger*innen, manchmal auch Radfahrer*innen und haben vielleicht auch Kinder, deren Sicherheit ihnen wichtig ist oder Eltern, die langsam ein Alter erreichen, in dem Barrierefreiheit notwendig wird.

Doch neben den Aspekten der Regelwerke, Sicherheit und Barrierefreiheit bleibt die Frage:

Wann haben wir akzeptiert, dass sich unser nachbarschaftliches und öffentliches Leben den Autos ausnahmslos unterordnet? Und noch viel wichtiger: Ist es wirklich das, was wir auch künftig wollen?

Wenn die Antwort nein zu Autoorientierung und ja zu Leben zwischen den Häusern lautet, liegt es auf der Hand: Werden die Autos immer breiter, so muss das Längsparken dort entfallen, wo die Fahrbahnen zu schmal sind – Rettungswagen und die Müllabfuhr müssen selbstverständlich weiterhin durchfahren können. In der Praxis kann das also bedeuten, dass in bestimmten Straßen - wenn überhaupt - nur noch auf einer Seite geparkt werden darf. Wenn also in einigen Straßen eine Seite zum Parken entfällt, braucht es Alternativen wie beispielsweise eine Bündelung des ruhenden Verkehrs an den Rändern der Quartiere. Das hätte gleich mehrere Vorteile, denn so würde auch Parksuchverkehr vermieden werden, da nicht mehrmals durch die Straßen gefahren werden müsste, bis endlich eine passende Lücke gefunden ist - das wäre wohl auch ganz im Sinne der Nachhaltigkeit.


An dieser Stelle ist anzumerken, dass es nicht um ein Ausschließen des Autos aus Wohnquartieren geht, denn einige sind sicher auf das Auto in Wohnortnähe angewiesen. Es geht auch nicht darum, eine Entweder-oder-Lösung, sondern eine Sowohl-als-auch-Lösung zu finden. Eine Stadt soll und muss funktionsfähig bleiben, aber für jede*n – auch diejenigen, die auf angemessene Breiten eines Gehweges angewiesen sind. Es geht um Verhältnismäßigkeit und um Mut, Lösungen zu finden, die vielleicht politisch und gesellschaftlich unangenehm scheinen. Aber vor allem braucht es ein Umdenken der Menschen, wenn es darum geht, ein vermeintliches Gewohnheitsrecht aufzugeben, denn: woher kommt die Selbstverständlichkeit, dass jede*r den privaten Gegenstand (das Auto) möglichst wohnungsnah und kostenfrei im öffentlichen Raum abstellen und damit öffentliches Gut, das allen gehört, für sich allein beansprucht und jede andere Nutzung auf dieser Fläche für jede*n andere*n ausschließt?


Wir brauchen einen Weg des Umdenkens und der Umsetzung, an dessen Ende aber ein lebendiges Nachbarschaftsleben für alle mit sicheren Gehwegen, die zum Stehenbleiben, zum Austausch, zur echten Interaktion und zum (Kinder)Spiel einladen, steht.

 

Ziel unserer Rauminterventionen im Rahmen des Park(ing)Days 2023 ist es daher, den (zu seltenen) Blick auf unsere Gehwege zu lenken und verbunden mit der Aufforderung, dass sich Politik- und Verwaltungshandeln künftig mehr mit dem Leben zwischen den Häusern beschäftigt: „Macht die Menschen glücklich, nicht die Autos“ (Jan Gehl in Lübeck, 09.01.2018)

 

Gerechteres Straßenprofil von morgen
Gerechteres Straßenprofil von morgen